Systemmelodie – Dynamiken erkennen und verändern
Falls Sie den Begriff „Systemmelodie“ googeln wollen, werden Sie enttäuscht sein. Der Begriff ist eine Eigenkreation. Er betitelt eine systemische Aktionsmethode, die dann erfolgsversprechend im Coaching oder in der Gruppensupervision eingesetzt werden kann, wenn ein schwer durchschaubares Phänomen in einem sozialen System besser „verstanden“ werden soll, um daraus Handlungsoptionen abzuleiten. Das klingt zugegeben etwas abstrakt und ist wohl am besten nachvollziehbar, wenn es an einem konkreten Beispiel illustriert wird:
Zwischen Stuhl und Bank (Fallbeispiel)
Im Rahmen eines Gruppencoachings für Führungspersonen schildert eine Schulleiterin, die ihre Stelle vor wenigen Monaten übernommen hat, folgende Situation in ihrem Team:
Sie beobachtet eine subtile Spaltung innerhalb des Teams, die sich in zwei Lagern manifestiert. Das eine Lager ist ihr als neuer Schulleiterin sehr positiv gestimmt und befürwortet die Veränderungen, die sie initiieren und umsetzen will. Das andere Lager zeigt verschiedene Formen von Widerstand. Ihr ist aber nicht klar, wogegen sich der Widerstand eigentlich richtet. Die Schulleiterin weiss, dass ihr Vorgänger die Stelle unfreiwillig verlassen hat und dass es bis zu ihrem Stellenantritt eine Interimslösung von ein paar Monaten gegeben hat. Über die Gründe, die zur Entlassung ihres Vorgängers geführt haben, weiss sie wenig. Der Schulpräsident hat im Anstellungsverfahren angemerkt, dass es ihm ausserordentlich wichtig ist, dass nach den Turbulenzen in der Vergangenheit wieder Konstanz und Verlässlichkeit einkehren kann. Von der Schulsozialarbeiterin hat sie erfahren, dass ein Teil der Lehrpersonen sich sehr für ihren Vorgänger eingesetzt haben, während andere heilfroh waren, dass ihm gekündigt wurde. Jedenfalls hat die Schulleiterin den Eindruck, dass die Vorgeschichte sie daran hindert, mit dem Team in ein aufgabenbezogenes Commitment zu kommen. Obwohl sie als Schulleiterin über viel Erfahrung verfügt, beschreibt sie die Situation als schwer durchschaubar. Sie weiss nicht, wo sie ansetzen soll, um als neue Schulleiterin wirksam zu werden. Ihre Frage für die Bearbeitung formuliert sie so: Was kann ich tun, um in dieser Situation nicht zwischen Stuhl und Bank zu fallen?
Die Supervisorin bittet die Gruppe, ihre Resonanz auf die Schilderung zunächst mit ihrer Körperhaltung und einer Geste auszudrücken. Die analoge Darstellung der Resonanz verdeutlicht der Schulleiterin, dass die anderen Gruppenmitglieder die Situation als undurchsichtig, schwer fassbar und energieraubend verstanden haben. Die emotionale Resonanz drückt vor allem Ohnmacht aus. Das ist für die Schulleiterin bereits eine wichtige Information. Ihr wird deutlich, dass sie Gefahr läuft, durch Aktionismus gegen ihre empfundene Ohnmacht anzukämpfen.
Systemmelodie (Dynamik erkennen und verändern)
Die Schulleiterin wird gebeten, den vermuteten Lagern je einen Namen zu geben, sie ungefähr zu quantifizieren und weitere Schlüsselpositionen zu benennen, die ihr für ihre Frage relevant erscheinen:
- Anhänger (4)
- Gekündigte (3)
- Abwartende (5)
- Schulpräsident
- Ich als (neue) Schulleiterin
Auf die Frage, weshalb sie die eine Gruppe mit „Gekündigte“ betitelt, erläutert die Schulleiterin, dass sie den Eindruck habe, die Lehrpersonen dieser Gruppe hätten die Kündigung des Schulleiters so persönlich genommen, als ob ihnen selber gekündigt worden sei.
Die Schlüsselpositionen werden auf sogenannten Bodenankern visualisiert und die Schulleiterin wird gebeten, die Bodenanker so auszulegen, dass Nähe und Distanz sowie Blickrichtung zwischen den Positionen zum Ausdruck kommen. Im nächsten Schritt sucht die Schulleiterin für jede Position eine Platzhalterin aus ihrer Coachinggruppe aus, die sich bei der nachfolgenden Befragung Notizen macht. Die Schulleiterin wird gebeten, in die verschiedenen Positionen zu treten, während die Supervisorin sie in der jeweiligen Position befragt (Fragen zur Sichtweise auf die Situation, Gefühle, Bedürfnisse und Handlungsabsichten). Die Befragung schliesst bei jeder Position mit der Frage: In der Position der Anhänger, Gekündigten, Abwartenden, ……
- Was ist euer oder dein Schlüsselsatz in dieser Situation?
Die Platzhalter stehen nun in die Positionen, zu denen sie sich Notizen gemacht haben und formulieren die gehörten Schlüsselsätze in der entsprechenden Intonation. Die Schlüsselsätze werden durch Tempo, Prägnanz und Wiederholung zu einer „Systemmelodie“ verdichtet. Die Schulleiterin steht etwas abseits und lässt die Szene auf sich wirken. Anschliessend gibt sie eine Rückmeldung zur Wirkung des Dargestellten: „Es ist eindrücklich, wie sehr sich die Stimmung mit dem deckt, wie ich es im Alltag erlebe. Mir wurde beim Zuhören völlig klar, dass ich so als Schulleiterin keine Chance habe. Es ist schon fast amüsant, dass ich bisher geglaubt habe, ich könne hier für Ausgleich sorgen.“
Im letzten Schritt führt die Supervisorin die sogenannte Metaposition ein. Sie bittet die Schulleiterin, einen Platz im Raum zu suchen, bei der sie einen möglichst guten Überblick hat und sich dem Gezerre zwischen den Positionen nicht mehr ausgesetzt fühlt. Die gewählte Metaposition wird mit einer Karte symbolisiert und die Schulleiterin wird gebeten, sich zu dieser Karte zu stellen. Anschliessend führt die Supervisorin mit ihr ein Gespräch aus der Perspektive der Metaposition (kann auch als umfassende Weisheit o.ä. bezeichnet werden): Aus dieser Position, mit dem Blick für das Ganze ….
- Was braucht das System, auf das wir hier blicken, am dringendsten?
- Was würdest du der Schulleiterin in Bezug auf ihre Fragestellung raten?
Die anderen Gruppenmitglieder beteiligen sich an der Lösungssuche, in dem sie die Hinweise aus der Metaposition prüfen, ergänzen und konkretisieren vor dem Hintergrund der Position, die sie in der Inszenierung eingenommen haben. Zum Beispiel:
- In der Position der Abwartenden, wäre es besonders wichtig, dass….
Am Schluss formuliert die Schulleiterin ihre Erkenntnisse, die sie aus der Bearbeitung gewonnen hat:
„Mir ist klar geworden, dass das Team den ungelösten Konflikt mit meinem Vorgänger weiter inszeniert und dass ich als Schulleiterin dabei gar nicht wahrgenommen werde. Ich habe auch gemerkt, dass ich von den „Anhängern“ und von den „Gekündigten“ gleichermassen instrumentalisiert werde. Wenn ich mich mit den „Anhängern“ verbünde stärkt das den Widerstand der „Gekündigten“. Ich muss mich gegenüber beiden Seiten abgrenzen und mich vor allem auf die Abwartenden konzentrieren. Sie werden schlussendlich entscheidend sein, wohin sich die Situation entwickelt. Der Konflikt gehört nicht zu mir und ich darf und will mich nicht dafür einspannen lassen.“
Die Schulleiterin hat offenbar die Systemmelodie in ihrem Team erkannt und hat eine Vorstellung entwickelt, wie sie in ihrer Führungsrolle künftig eine neue Melodie anstimmen kann.
Verortung der Methode
Die am Fallbeispiel aufgezeigte Methode gehört zu den systemischen Aktionsmethoden (vgl. dazu Lauterbach 2011). Sie haben ihre Wurzeln im systemischen Denken und nutzen methodische Ansätze aus dem Psychodrama, der Soziometrie und den systemischen Aufstellungen. Ihnen gemeinsam sind folgende Wirkprinzipien:
- Muster in sozialen Systemen werden erkennbar, erlebbar und veränderbar.
- Die Auseinandersetzung auf verschiedenen Ebenen (wahrnehmen, denken, fühlen, wollen) ermöglicht ein tieferes Verstehen als eine rein kognitive Auseinandersetzung.
- Wechselwirkungen der verschiedenen Positionen im System (und damit auch der eigene Einfluss) werden erfahrbar.
- Die Methoden nutzen verschiedene Perspektiven auf ein System und tragen dadurch wesentlich dazu bei, die Sichtweise der Fallgeber/in (hier die Schulleiterin) zu erweitern.
Ballreich weist in einem Artikel (Ballreich, R.; Menschenskulpturen und Aufstellungen in der Teammediation; 2012) darauf hin, dass systemische Aktionsmethoden auch in der Konfliktbearbeitung mit direkt beteiligten Teams und Gruppen eingesetzt werden können. Er betont im selben Artikel aber auch, dass es dabei Vorsichtsmassnahmen braucht, weil die Methoden den beteiligten Konfliktparteien (zu) wenig Schutz bieten. Diese Einschätzung teile ich und rate dazu, sie mit direkt Beteiligten nur sehr dosiert einzusetzen. Hingegen erachte ich einen Grossteil der systemischen Aktionsmethoden als geeignet, um sie im Einzelcoaching oder in der Gruppensupervision einzusetzen. Vor allem in der Gruppensupervision können die Ressourcen der Gruppe in der Bearbeitung optimal genutzt werden und erfahrungsgemäss ist der Lernertrag sowohl für die Fallgeber/in als auch für die anderen Gruppenmitglieder tendenziell höher als bei rein analytisch-kognitiven Bearbeitungsmethoden.
Als Supervisorin wage ich zu behaupten, dass …
- systemische Aktionsmethoden das Verständnis für Wechselwirkungen grundsätzlich fördern.
- Übung darin entsteht, Muster zu erkennen
- sowie den eigenen Anteil an der Musterbildung zu hinterfragen und zu verändern.
Mehr zum Thema
Wer sich vertiefter mit dem Thema auseinandersetzen möchte und systemische Aktionsmethoden handelnd erfahren will, ist herzlich zum Workshop Führung systemisch verstehen eingeladen.
Auf Wunsch kann die Arbeit mit systemischen Aktionsmethoden auch in bestehenden Intervisionsgruppen eingeführt werden. Wenn Sie Interesse haben, nehmen Sie Kontakt auf.
Literatur
Ballreich, R.; Glasl, F.; Konfliktmanagement in Organisationen; Concadora Verlag 2011
Lauterbach, M.; Wie Salz in der Suppe – Aktionsmethoden für den beraterischen Alltag; Carl Auer 2011
Ruhnau, E.; Systemische Aufstellungen in der Mediation; Concadora Verlag 2012
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