Gemeinsame Haltung: Mehr als ein Mythos?
Was ist mit dem Begriff „gemeinsame Haltung“ überhaupt gemeint? Ist das nicht ein Mythos, der mit der erlebten Realität der meisten Schulteams wenig bis gar nichts zu tun hat? Jedenfalls ist es ein überstrapazierter, schwer fassbarer und theoretisch kaum definierter Begriff. Kritisch liesse sich auch anmerken, dass eine gemeinsame Haltung, die keine Auswirkungen auf das tägliche Handeln zeigt, kaum erstrebenswert ist. Vielleicht ist es hilfreich, wenn der Begriff „gemeinsame Haltung“ durch „gemeinsame Ausrichtung“ ersetzt und mit der Metapher „gemeinsamer Kompass“ illustriert wird.
Beobachtungen in der Praxis
Ja, es gibt die Schulen, bei denen in grundlegenden Fragen eine gemeinsame Ausrichtung erkennbar ist und die sich in der Bearbeitung von herausfordernden Themen auf ein tragfähiges Fundament verlassen können. Wer in einem solchen Team gearbeitet hat, will in der Regel nicht mehr auf diesen Rückhalt verzichten. Wer diese Erfahrung noch nie gemacht hat, kann sich meist gar nicht vorstellen, dass das überhaupt möglich ist. Es gibt aber auch Schulen, bei denen die vermeintliche gemeinsame Haltung in Form von Leitbildern und Grundsätzen verschriftlicht ist, die aber in einem krassen Widerspruch zum tatsächlichen Erleben und Handeln der Beteiligten stehen. In diagnostischen Interviews zeigen sich dann Diskrepanzen, die der Glaubwürdigkeit nach innen und aussen wenig dienlich sind: „In unserem Leitbild steht zwar, dass Fehler als Chance für das Lernen verstanden werden. Faktisch ist es aber so, dass Jugendliche bei uns gute Gründe haben, ihre Fehler zu vertuschen, wenn sie nicht einen Eintrag im Zeugnis riskieren wollen.“ Es bleibt also die Frage, wie man als Schule oder als Team zu einem gemeinsamen Kompass gelangt, der im täglichen Handeln tatsächlich als Orientierung dient.
Gemeinsame Ziele verfolgen, die sich nur über Kooperation erreichen lassen
Verschiedene Untersuchungsergebnisse (vgl. Kauffeld 2001, Schattenhofer 2009) weisen darauf hin, dass eine gemeinsame Ausrichtung nur in Teams entwickelt wird, deren Mitglieder überzeugt sind, dass sie….
- tatsächlich wichtige Ziele verfolgen.
- Ziele verfolgen, die ausschliesslich über Kooperation erreicht werden können.
Vermutlich ist das ein Grund, weshalb an Schulen, die mit besonderen Herausforderungen konfrontiert sind, konsequenter am gleichen Strick gezogen wird. Als besondere Herausforderungen können äussere Bedingungen wie die soziokulturelle Zusammensetzung der Lernenden und deren Eltern, die drohende Schliessung einer Schule aufgrund der demografischen Entwicklung oder die Bewältigung einer akuten Krise verstanden werden. Aber auch selber gesteckte Ziele wie die kollektive Abschaffung von Hausaufgaben sind nur in Kooperation zu erreichen und fördern eine gemeinsame Ausrichtung als Team.
Auseinandersetzung wagen und Differenzen zulassen
Friedhöfliche Teams (vgl. Schulz von Thun 2001) haben die Tendenz, der Auseinandersetzung auszuweichen und scheuen das Ringen um eine gemeinsame Ausrichtung. Sie bevorzugen rein pragmatische Lösungen, die den individuellen Gestaltungsspielraum möglichst wenig tangieren und das harmonische Selbstbild („Wir haben es doch gut miteinander“) nicht gefährden. Wie sollen denn Haltungen und Anliegen thematisiert werden, wenn Unterschiede per se Angst machen? Wie sollen Teams zu einer gemeinsamen Ausrichtung finden, wenn Anpassung höher gewichtet wird als klare Stellungnahmen? Differenzierung vor Integration ist ein wichtiges Prinzip im Finden einer gemeinsamen Ausrichtung:
- Welche Funktion haben die Hausaufgaben für euch auf der Unterstufe und welche auf der Mittelstufe?
- Wie sieht eure konkrete Praxis aus? Woran orientiert ihr euch in den Stufen?
- Inwiefern wäre eine Abstimmung über die Stufen hinweg hilfreich? Was wären die Chancen? Für wen?
- Welche Risiken wären mit einer Abstimmung über die Stufen hinweg verbunden? Für wen?
- Wie würden die Eltern die Fragen beantworten? Wie die Schülerinnen und Schüler?
Individuelle Haltungen und Anliegen im Dialog sichtbar machen
Das Problem im eingangs beschriebenen Ausschnitt einer Kollegiumsdiskussion besteht nicht in der Unterschiedlichkeit der Sichtweisen, sondern im Umstand, dass alle in ihrer Meinung gehört und respektiert werden wollen, aber niemand wirklich zuhört. Mit wirklich zuhören wäre ein ernsthaftes Nachfragen und verstehen wollen gemeint:
- Welches Anliegen steht hinter deiner Forderung nach mehr Regeln? Welche Erfahrung im Alltag steht dahinter? Worum geht es dir im Wesentlichen?
Es ist klar, dass diese Art von Dialog in manchen Alltagssituationen schlicht keinen Platz hat. Aber etwas ketzerisch kann auch behauptet werden, dass manche ausschweifende Diskussion wesentlich verkürzt würde, wenn die Beteiligten dem Zuhören und verstehen wollen ebenso viel Gewicht beimessen würden wie dem Gehört-werden-wollen.
Vom Konkreten zum Abstrakten
Wir sind es gewohnt, deduktiv zu denken und das Vorgehen in der Prozessgestaltung danach auszurichten: Wenn ein neues Konzept entwickelt wird, werden in der Regel zuerst die zentralen Werte, dann die Grundsätze und zuletzt das konkrete Handeln beschrieben. Soweit so gut. Das Problem bei diesem Vorgehen ist lediglich, dass die abstrakte Auseinandersetzung über sogenannte „Grundhaltungen“ ohne konkreten Bezug zum Handeln in der Praxis eine Art Scheineinigkeit fördert: Je abstrakter die Aussage, desto grösser die Übereinstimmung. Demgegenüber fördert der Dialog über die konkret gelebte Praxis, die damit verbundenen Erfahrungen und die dahinterliegenden Annahmen eine vertiefte Reflexion und macht sowohl Übereinstimmungen als auch Unterschiede sichtbar:
- Wie kommunizierst du Beurteilungsergebnisse gegenüber den Eltern? Welche Erfahrungen machst du damit? Weshalb ist dir diese Form der Transparenz wichtig?
- Wo stimmen wir in unserer Praxis überein und wo liegen die Unterschiede?
- Was hätte wer davon, wenn wir unsere Praxis konsequenter abstimmen würden und was wäre der Preis dafür?
Das induktive Vorgehen hat den Vorteil, dass sich die Auseinandersetzung am konkreten Handeln, den damit verbundenen Erfahrungen und den dahinterliegenden Haltungen orientiert. Sie hat sozusagen mehr Fleisch am Knochen und weckt bei den Beteiligten mehr Interesse und Betroffenheit als abstrakte Grundsatzdiskussionen.
Fazit
Falls es so etwas wie eine gemeinsame Haltung gibt, ist damit ein dynamischer Prozess des Suchens, des Ringens und vor allem des gemeinsamen Lernens gemeint und nicht ein statischer Zustand des einmal Erreichten. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die gemeinsame Haltung zu etwas Starrem gerinnt, und es nicht mehr nötig hat, sich die Frage nach der Tauglichkeit gefallen zu lassen (Taugt diese Haltung zur Bewältigung der anstehenden Herausforderungen?). Damit würde die gemeinsame Haltung einer Ideologie zunehmend ähnlicher werden. Und das ist es vermutlich nicht, was wir uns an Entwicklung von den Schulen wünschen. Vielleicht vermag einmal mehr ein Zitat auf den Punkt zu bringen, worum es im Wesentlichen gehen könnte:
«Reifer werden heisst schärfer trennen und inniger verbinden.»
(Hugo von Hofmannsthal)
Literatur zum Thema
- Kauffeld, S. (2001); Teamdiagnose; Verlag für Angewandte Psychologie
- Schattenhofer, K. (2009); Alles über Gruppen; BELTZ Verlag
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