Bleiben wir doch sachlich! – Affektlogik für Führungspersonen
Wir leben in einer vermeintlich rationalen Welt, die nach den Gesetzen von Leistung, Markt und Gewinnstreben funktioniert. Gleichzeitig spielen Emotionen eine bedeutende Rolle in unserem modernen Leben. Abgesehen von der individuellen emotionalen Glücksmaximierung sorgen Grossereignisse wie royale Hochzeiten unbedeutender Prinzen oder sich jagende sportliche Megaevents für eine unablässige gesellschaftliche Emotionalisierung. Werbung hat schlicht immer darauf basiert und selbst in der Politik ist offensichtlich die Bewirtschaftung der kollektiven Empörung bald wichtiger als die differenzierte Argumentation. Emotionen soweit das Auge reicht! In der Arbeitswelt hingegen wirken Emotionen eher störend. Klar, ein gutes Betriebsklima nimmt man als Führungsperson gerne und auch die Freude der Mitarbeitenden über getroffene Entscheidungen oder erlebte Anerkennung. Aber Hand aufs Herz: Negative Emotionen, affektgeleitetes Verhalten oder impulsive Reaktionen von Mitarbeitenden gelten als «unprofessionell» und der darauffolgende Appell lautet oft: «Bleiben wir doch sachlich!»
Nur geht das nicht. Sagt zumindest Luc Ciompi, emeritierter Professor für Sozialpsychiatrie. In seinem in den 1980-Jahren begründeten und mit Bezug zu Neurobiologie und Systemtheorie weiterentwickelten Konzept der Affektlogik beschäftigt er sich mit den Wechselwirkungen zwischen Fühlen und Denken oder eben «Affekten» und «Logik» und der daraus folgenden Implikationen für das Verhalten. Die grundlegenden Aussagen des Konzeptes lassen sich in drei Thesen zusammenfassen:
These 1
Fühlen und Denken wirken in sämtlichen psychischen Leistungen untrennbar zusammen.
Diese Erkenntnis ist an sich nicht neu. Auch in der modernen Hirnforschung wurde mehrfach bestätigt, dass sich die ineinander verflochtenen Denk- und Fühlzentren ständig aufs Engste beeinflussen. Hingegen ist die Tragweite dieses Befundes noch nicht hinreichend verstanden, bedeutet er doch, dass es ein reines affektfreies Denken überhaupt nicht geben kann, weder in der Arbeitswelt, noch in Wissenschaft oder gar Mathematik.
These 2
Affekte leiten das Denken und Verhalten. Sie sind die entscheidenden Motoren der psychischen und sozialen Entwicklung.
Affektive Grundstimmungen beeinflussen laufend den Fokus der Aufmerksamkeit und bestimmen damit zugleich, was gerade als wichtig oder unwichtig erscheint. Stimmungskonforme Wahrnehmungen oder Denkinhalte werden bevorzugt beachtet, nicht konforme dagegen vernachlässigt. Alles in allem stellen Affekte die bei weitem wirksamsten Komplexitätsreduktionen dar, über die wir verfügen. Entsprechend unentbehrlich sind sie für unsere tägliche Welt- und Wirklichkeitserfassung. In allen Meinungen, Ideologien und Vorurteilen sind ständig vielfache feine Affektsteuerungen am Werk, von denen wir nichts wissen. Nicht durch die kognitiven Seiten allein, sondern erst über die ständige Interaktion von Kognition und Emotion lassen sich individuelle und soziale Dynamiken einigermassen verstehen.
These 3
Situativ zusammengehörige Gefühle, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen verbinden sich im Gedächtnis zu funktionellen Einheiten im Sinne von integrierten «Fühl-Denk- und Verhaltensprogrammen» (FDV-Programme).
Diese FDV-Programme aktualisieren sich in ähnlichen Situationen immer wieder neu. Sie erscheinen als die eigentlichen Bausteine des «psychischen Apparates». Emotional ähnlich eingefärbte FDV-Programme haben die Tendenz, sich zu grösseren Ganzen, zu einer Art affektiv-kognitiven Mustern oder gar Strängen zu verflechten und können sich zu eigentlichen «affektiv-kognitiven Eigenwelten» verdichten.
Affektlogik und Führung?
Und was bedeutet das nun für die Führung? Klar ist: Einfacher wird die Sache nicht. (Hat jemand behauptet, Führung sei einfach?) Vielleicht spannender? Sicher herausfordernd! Berücksichtigt man die Erkenntnisse der Affektlogik im Führungshandeln, wird deren Bedeutung in zwei Bereichen besonders deutlich.
Personalführung
Emotionalität und Professionalität sind keine Widersprüche. Engagierte Mitarbeitende sind ohne Emotionen nicht zu haben, dazu gehören auch die negativen. Gelingt es Führungspersonen auf diese nicht entwertend oder ausweichend zu reagieren, eröffnen sich neue Möglichkeiten. Führungspersonen müssen vermehrt in der Lage sein, bei emotional schwierigen Reaktion der Mitarbeitenden die möglicherweise dahinterliegenden Sorgen, Ängste und Bedürfnisse zu erkennen. Sie müssen diese im Gespräch thematisieren und auf sie reagieren können, statt einseitig an die Rationalität zu appellieren. So kann sich eine neue Kooperation- und Beziehungsdynamik entwickeln und damit die Grundlage schaffen für eine schrittweise Modifikation von vorhandenen FDV-Programme bei Mitarbeitenden und Führungspersonen. In der Tat hohe Anforderungen an die Empathie- und Kommunikationsfähigkeit! Das Konzept der «Gewaltfreien Kommunikation» von Marshall B. Rosenberg liefert dazu äusserst hilfreiche Ansätze.
Change-Management
Veränderungsprozesse in Organisationen stellen bekannterweise oft erhöhte Anforderungen. In der Metapher, dafür «die Mitarbeitenden ins Boot» holen zu wollen gründet die Erkenntnis, dass ohne diese die Veränderung nicht gelingen wird. Folgerichtig investieren Führungspersonen viel Energie in gute rationale Argumente, mit denen die Mitarbeitenden überzeugt werden sollen. Das ist zweifellos notwendig, aber leider oft nicht hinreichend. Bei der Initiierung und Gestaltung von Veränderungsprozessen geht es auch darum, die Menschen grundsätzlich in ihrer Affektivität anzusprechen und die diesbezügliche Energie zu nutzen. Dazu braucht es engagierte, inhaltlich kompetente, überzeugte und überzeugende Führungspersonen. Solche, die bei aufkommenden Widerstand diesen nicht vorschnell als Veränderungsresistenz, Inflexibilität oder schlichte Bequemlichkeit abtun. Solche, die allfällige Bedenken oder Ängste ansprechen, mit einer interessierten Haltung zu verstehen versuchen und angemessen darauf zu reagieren in der Lage sind. Ab hier wird Führung zu Leadership.
Führung bedeutet primär Selbstführung
Bedenkt man die Komplexität und Dynamik solcher Prozesse und die erforderlichen Kompetenzen zu deren Bewältigung, wird deutlich, dass so verstandene Leadership ohne Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit kaum gelingen wird. Nicht von ungefähr haben Themen wie Mindful-Leadership, Selbstführungstrainings oder MBSR-Kurse in der Führung an Bedeutung gewonnen. Auch aus der Perspektive der Affekt-Logik mit gutem Grund. Wer seine eigenen «Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme» besser kennt, wird auf emotionale Reaktionen von Mitarbeitenden als Führungskraft bewusster, beweglicher und angemessener reagieren können.
Literatur zum Thema
- Ciompi, Luc: Affektlogik, Klett-Cotta-Verlag, 1998
- Rosenberg, Marshall B.: Gewaltfreie Kommunikation, Junfermann-Verlag, 2013
- Kabat-Zinn, Jon: Gesund durch Meditation, Knaur-Verlag, 2013
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