Bestimmt die Haltung das Handeln?
In vielen Gesprächen im Rahmen von Schulberatungsaufträgen habe ich immer wieder die Aussage gehört «Wir sollten uns auf gemeinsame Haltungen einigen». Und auch in den Berichten kantonaler Evaluationsstellen ist häufig der Entwicklungshinweis «Verständigen Sie sich im Team auf gemeinsame pädagogische Grundhaltungen.» zu lesen.
Die Gründe dafür sind naheliegend. «Die Haltung bestimmt die Handlung.» ist dabei die Annahme, gegen die ja grundsätzlich nichts einzuwenden ist. Und wie wir alle wissen im Pädagogischen auch funktioniert.
Während die Lehrer unserer Grosseltern an der körperlichen Züchtigung ihrer Zöglinge nichts Verwerfliches erkennen konnten, sondern im Gegenteil die Haltung vertraten, diese sei erzieherisch unerlässlich, müssen wir heute keine Sekunde darüber nachdenken, entsprechende Mittel einzusetzen. Einzig und allein schon aus der Haltung heraus, dass Kinder zu schlagen kontraproduktiv und ethisch unverantwortlich ist. (Wobei, zumindest im Konjunktiv beschleicht uns der Gedanke aus den Untiefen der eigenen Abgründe in seltenen Fällen dann unverhofft doch …)
«Die Haltung bestimmt das Handeln.» Wie sonst es wäre erklärbar, dass es eine Zeit gab, in der es dazu gehörte, Leitbilder und Leitsätze zu erarbeiten, in denen Haltungen und Ideale formuliert wurden, die dann als Orientierungsrahmen und Leitplanken für das alltägliche Handeln dienen sollten. Habe ich mehrfach mit Überzeugung und gutem Ergebnis gemacht. Und dennoch kennen wir alle deren Schicksale. «Der Prozess ist wichtiger als das Produkt» hiess dann die Losung. Nur wie soll der Prozess über Jahre am Laufen gehalten werden?
Mittlerweile bin ich nicht mehr sicher, ob die zugrunde liegende Annahme richtig ist. Oder vielleicht logisch zwar richtig ist, wir aber psychologisch so funktionieren, dass es uns immer wieder gelingt, den logischen Konsequenzen zu entrinnen. Und dies nicht ungelegen kommt, weil uns haltungsgeleitetes Handeln allzu oft dazu zwingt, die Komfortzone zu verlassen.
Wie anders ist es zu erklären, dass es Raucherinnen und Rauchern immer wieder gelingt, nicht damit aufzuhören, obwohl viele die klare Haltung vertreten, dass es nebst ungesund und teuer einfach nur dumm ist? «Es stehen beruflich gerade wichtige Entscheide an und aufhören im Moment darum sehr ungünstig.» ist eine mögliche und vielen verwendeten Begründungen.
Oder wie anders ist es zu erklären, dass viele von uns und auch ich die Haltung vertreten, den eigenen ökologischen Fussabdruck verringern zu müssen, im Zweifelsfall dann aber doch das Auto nehmen. «Die öV-Verbindungen sind jetzt aber wirklich zu schlecht», lautet jeweils meine innere Ausrede.
«Rationalisierung» heisst der psychologische Fachbegriff dafür. Und ohne diesen und andere Abwehrmechanismen wären wir schlicht nicht mehr handlungsfähig. Ist doch alles allzu menschlich, werden viele denken. Mag sein.
Der Sozialpsychologe Harald Welzer geht noch einen Schritt weiter, allerdings in die andere Richtung. «Moralische Überzeugungen sind nicht handlungsleitend, sondern geben uns die Richtschnur dafür, welche Begründungen dafür geeignet sind, eine falsche Handlung mit einem richtigen Bewusstsein in Deckung zu bringen. Das universelle Scharnierwort dafür heisst ‘eigentlich’.»1
Schon klar, Haltungen sind keine Handlungen, Ziele ebenso wenig, Absichten auch nicht. Aber ist der Gedanke nicht etwas dreist, dass das Festlegen von gemeinsamen Haltungen und Überzeugungen sogar kontraproduktiv sein könnte, weil es hilft, die kognitive Dissonanz zwischen Sollen, Wollen und Tun rational zu erklären und zu rechtfertigen?
Zurück zum Thema im Kontext der Schulberatung. Werden Haltungen überschätzt? Oder werden zumindest gemeinsame Haltungen überschätzt? Und sind in Teams und Organisationen die erarbeiteten so genannten «gemeinsamen Werte und Haltungen» nicht eher Abbild eines Kompromisses, des kleinsten gemeinsamen Nenners, hinter dem eine Mehrheit der Beteiligten noch stehen kann? Und je kleiner die Gemeinsamkeiten sind, desto wolkiger, schwammiger und weniger konkret handlungsleitend sind die Ergebnisse.
Ich habe keine Antwort auf die Frage, wie nun mit dem Thema umgegangen werden soll. Dafür ein paar weitere Fragen.
- Sind Haltungen von aussen beinflussbar und damit veränderbar?
- Warum müssen Haltungen eigentlich gemeinsam sein?
- Und falls ja, warum gibt sie der Arbeitgeber nicht einfach vor und erwartet ausschliesslich Handlungen innerhalb dieser Grenzen?
- Hat der Arbeitgeber das Recht, bestimmte Haltungen der Mitarbeitenden einzufordern?
- Sind Haltungen nicht etwas sehr Persönliches und darum gar nicht verhandelbar?
- Tragen gemeinsame Haltungen wirklich zur Verbesserung von Qualität und Professionalität bei?
- Wäre es nicht ehrlicher, die erwünschten Handlungen in Form von konkreten und überprüfbaren Standards zu benennen und diese konsequenter einzufordern?
- Sind im Gegenzug Standards nicht zu starr und zu wenig differenziert in Berufen, die stark von der situativ-kreativen Gestaltungskraft der Mitarbeitenden leben?
- Sind Haltungen überhaupt wichtig, weil letztlich doch nur die Handlungen zählen?
- Welche Aspekte wären im Thema zudem zu berücksichtigen?
- Bestimmt die Haltung das Handeln?
Sachdienliche Hinweise zur Beantwortung der Fragen sind erbeten an hannes.good@concentria.ch.
1 Welzer Harald: Nachruf auf mich selbst, S. Fischer 2021 (Seite 81)
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